Martin Schmitz Verlag

Beim Schoppen poppen
Die Queen of the Bembel: Tine Köhl gibt Einblick in ihr erotisch ?ereignisreiches Leben als Apfelweinkönigin

Ein belangloser TV-Film. Eine längst erwachsen und flügge gewordene Tochter erfleht von ihrer Mutter die Herausgabe des Koffers, in dem sich ihre Tagebücher aus Teeniezeiten befinden. Die gefühlskalte Erzeugerin blafft: »Was willst du mit dem Schwulst? Ich habe mir erlaubt, deine Kritzeleien zu lesen und sie längst der Mülltonne übergeben.« Ein solches Schicksal war den Tagebüchern der Tine Köhl nicht beschieden. Sie überließ ihre schriftlich fixierten Heimlichkeiten dem Schriftsteller Jamal Tuschick. Der, so lesen wir auf dem Umschlag des Buches »Die Apfelweinkönigin oder Der Himmel über der Humboldtstraße«, »die Notate« formalisierte. Worin diese Formalisierungen bestanden, erfahren wir nicht, aber es ist schon mehr als exzeptionell, daß eine junge Frau ihre intimen Aufzeichnungen einem Mann zur Bearbeitung überläßt. Was wohl die Ober-Emma zu einer solchen Geschlechterpaarung sagen würde? Oder gar zu dem sehr offenen Bekenntnis der Tagebuchschreiberin: »Ich trage gern ein großes Dekolleté, falls man das so sagen kann. Mir fehlt was, wenn nicht auch mein Busen zur Kenntnis genommen wird.« Schreibt’s, preist an anderer Stelle den »Tittenbonus«, um aber sogleich dem »Räkeltrash« von Reklamemädchen eine deutliche Absage zu erteilen.
Aus Tine wird im Buch Toni. Und die bewegt sich in einem engen Radius um ihren »Horst«, also um ihre Bude in der im Frankfurter Nordend gelegenen Humboldtstraße. Eng, klar doch: Die Mama wohnt ebenfalls im Haus, und zwei Häuser weiter hat Toni das Kochen gelernt. Und wenn sie sich mal aus dem Nordend wegbewegt, fehlt ihr gleich das Frankfurter Getränk par excellence, der Apfelwein, »und Leute, die wissen, wie man zum Apfelwein geht«. Denn »seit einem Exzess mit auf Ex gekippten Schoppen, den eine konzertierte Kotzerei (…) finalisierte«, nennt sie der Küchen-Kurt aus dem Nahalkoholungsgebiet "Stalburg" »seine Apfelweinkönigin«. Die liebt aber auch andere Alkoholika, Gin & Tonic zum Beispiel, dabei vor allem den Gin. Und hält fest: »Ich frühstücke Alkohol. Der Klügere kippt nach.« Dabei hat sie schon früh den Tagebuchsatz formuliert: »Nie wieder will ich Geld für unnötigen Alkohol ausgeben.« Sie erliegt aber doch immer wieder dem Charme des Apfelweinkruges (der am Main Bembel heißt), weil der sich so formidabel an ihren Busen füge.
Mehr jedoch als der Alk stehen Akte geschlechtlicher Natur im Mittelpunkt des Buches bzw. die Irrungen und Wirrungen von longing und belonging: »Ich höre ein anmaßendes Lied, das mich begleitet, seit ich dreizehn bin: Ich weiß nicht, zu wem ich gehöre, ich bin doch zu schade für einen allein.« Den Einen hätte sie aber doch ganz gerne, einen, der ihr nicht nur die Hände an die weiblichen Signalstellen legt oder zu früh seinen Einfaltspinsel zum Vorschein kommen läßt, sondern auch einmal ganz romantisch sagt: »Ich liebe dich.«
Hamun, »ein Grübler von erlesenem Geschmack, soweit es Literatur betraf«, könnte der Eine sein. Famos findet Toni den jungen Mann, der bei ihr nicht nur den »Ulysses« als Pflichtlektüre einführte, sondern um ihre Hand bat, »mit dem Ziel, sie so galant wie ausgiebig innenseitlich zu küssen.« Toni mag Küsse und Knutschereien, und bald läßt sich Hamun in ihrem Horst nieder. Dort sitzt er an ihrem Schreibtisch und gibt sich schwerste Kost, während sie neben ihm kniet und sich anhört, was ihm gerade in den Sinn kommt. Sie fühlt sich von ihm motiviert, sich mehr ihrem arg vernachlässigten Germanistikstudium zu widmen. Sie putzt, wäscht, kocht, schafft die Kohle ran und kauft Hamun bei Tchibo seine Unterhosen. Sie möchte »ein unauslöschbarer Teil seiner innenweltlichen Bildergalerie« werden. Doch das Zusammenleben zieht die erotische Spannung aus ihrem Verhältnis, die Kopulationsquote sinkt. Nachdem sie ihrem Tagebuch anvertraut hat, daß ihre Freundin Rosa ihr offenbart hat, ihr neuer Lover lecke sie gerne, notiert Toni: »Hoch über der Humboldtstraße lebt Hamun in einem Zustand kompletter Inklusion. Ich aber mag ausgehen, und mich sexy fühlen und angeguckt wissen und dann am Tresen den Mann stehen sehen, zu dem ich gehöre.« Hamun gerät in eine arge Lebenskrise, muß in die Klinik und danach raus aus dem Horst. Tonis Anbetungslust ist verflogen. Das reduzierte Miteinander ohne Anfeindungen findet sie wohltuend und erbärmlich zugleich. Sie muß das »Männerleiden«, das zuhause sitzt, liest und leicht modrig riecht, Heinrich Heine zitierend »von ihrem Herzen fortstoßen und … fortschicken«, kann sich aber doch nicht recht von ihrem »Kind« lösen und hat Sex mit dem Ex.
Die anderen Geschöpfe männlichen Geschlechts – Torben, Said, Ingo, Pawel, Didi, Arnaud, Mülli etc. pp. –, mit denen Toni nunmehr Küsse und Körperflüssigkeiten austauscht, ergeben bei der Lektüre so etwas wie einen ideellen Gesamtmann, der ein gar schreckliches Bild abgibt, von dem man gern Abstand nähme, gehörte man nicht selbst dieser Spezies an. Was will eine Toni auf Dauer schon mit einem, der im Bett von Einar Schleef anfängt und fragt, was sie von Nietzsche kennt? Oder gar von einem, der solche Sätze schreibt: »Estriche sind Bestandteil der Boden- und Deckenkonstruktion.« Oder von einem Doppelnamen-Strizzi, der im "Größenwahn" mit seiner Berliner Flamme aufkreuzt, sich von Toni bewirten läßt und sie ansonsten von erhöhter Warte aus betrachtet, so à la »Ich gönn dir mich jetzt mal«? Und umgekehrt: Welcher klarimkopfe Mann läßt sich von einer Toni überzeugen, daß Rosenstolz oder gar AC/DC prima Combos sind? Dann lieber nur Apfelwein.

Jürgen Schneider in: junge Welt vom 14.12.2010
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